Sonntag, 1. Oktober 2017

Felix Salten - Bambi / Nun war es Winter

Von der großen Eiche am Wiesenrand fiel das Laub. Es fiel von allen Bäumen. Ein Ast der Eiche stand hoch über den anderen Zweigen und langte weit hinaus zur Wiese. An seinem äußersten Ende saßen zwei Blätter zusammen.
»Es ist nicht mehr wie früher«, sagte das eine Blatt.
»Nein«, erwiderte das andere. »Heute nacht sind wieder so viele von uns davon . . . wir sind beinahe schon die einzigen hier auf unserem Ast.«
»Man weiß nicht, wen es trifft«, sagte das erste. »Als es noch warm war und die Sonne noch Hitze gab, kam manchmal ein Sturm oder ein Wolkenbruch, und viele von uns wurden damals schon weggerissen, obgleich sie noch jung waren. Man weiß nicht, wen es trifft.«
»Jetzt scheint die Sonne nur selten«, seufzte das zweite Blatt, »und wenn sie scheint, gibt sie keine Kraft. Man müßte neue Kräfte haben.«
»Ob es wahr ist«, meinte das erste, »ob es wohl wahr ist, daß an unserer Stelle andere kommen, wenn wir fort sind, und dann wieder andere und immer wieder . . .«
»Es ist sicher wahr«, flüsterte das zweite, »man kann es gar nicht ausdenken . . . es geht über unsere Begriffe . . .«
»Und man wird auch zu traurig davon«, fügte das erste hinzu.
Sie schwiegen eine Zeit. Dann sagte das erste still vor sich hin: »Warum wir weg müssen . . .?«
Das zweite fragte: »Was geschieht mit uns, wenn wir abfallen . . .?«
»Wir sinken hinunter . . .«
»Was ist da unten?«
Das erste antwortete: »Ich weiß es nicht. Der eine sagt das, der andere sagt dies . . . aber niemand weiß es.«
Das zweite fragte: »Ob man noch etwas fühlt, ob man noch etwas von sich weiß, wenn man dort unten ist?«
Das erste erwiderte: »Wer kann das sagen? Es ist noch keines von denen, die hinunter sind, jemals zurückgekommen, um davon zu erzählen.«
Wieder schwiegen sie. Dann redete das erste Blatt zärtlich zum anderen: »Gräme dich nicht zu sehr, du zitterst ja.«
»Laß nur«, antwortete das zweite, »ich zittere jetzt so leicht. Man fühlt sich eben nicht mehr so fest an seiner Stelle.«
»Wir wollen nicht mehr von solchen Dingen sprechen«, sagte das erste Blatt.
Das andere entgegnete: »Nein . . . wir wollen es lassen . . . Aber . . . wovon sollen wir denn sonst sprechen?« Es schwieg und fuhr nach einer kurzen Weile fort: »Wer von uns beiden wohl zuerst da hinunter muß . . .?«
»Damit hat's noch Zeit«, beschwichtigte das erste. »Erinnern wir uns lieber, wie schön es war, wie wunderbar schön! Wenn die Sonne kam und uns so heiß brannte, daß man zu schwellen glaubte vor Gesundheit. Weißt du noch? Und dann der Tau in den Morgenstunden . . . und die linden, herrlichen Nächte . . .«
»Jetzt sind die Nächte furchtbar«, jammerte das zweite, »und nehmen kein Ende.«
»Wir dürfen, uns nicht beklagen«, sagte das erste mild, »wir haben länger gelebt als viele, viele andere.«
»Ich bin wohl sehr verändert?« erkundigte sich das zweite Blatt schüchtern, aber dringend.
»Keine Spur«, beteuerte das erste, »du glaubst wohl, weil ich so gelb und häßlich geworden bin. Nein, bei mir ist das etwas anderes . . .«
»Ach, geh«, wehrte das zweite ab.
»Nein, wahrhaftig«, wiederholte das erste voll Eifer, »glaub' mir doch! Du bist so schön wie am ersten Tage. Hier und da vielleicht ein kleiner gelber Streifen, kaum zu merken, und er macht dich nur noch schöner. Glaub' mir doch!«
»Ich danke dir«, flüsterte das zweite Blatt gerührt. »Ich glaube dir nicht . . . nicht ganz . . . aber ich danke dir, weil du so gut bist . . . du bist immer so gut zu mir gewesen . . . ich begreife es jetzt erst ganz, wie gut du warst.«
»Schweig doch«, sagte das erste und verstummte selbst, denn es konnte vor Kummer nicht mehr reden.
Nun schwiegen sie beide. Die Stunden vergingen. Ein nasser Wind strich kalt und feindselig durch die Baumwipfel.
»Ach . . . jetzt . . .« sagte das zweite Blatt, » . . . ich . . .« Da brach ihm die Stimme. Es ward sanft von seinem Platz gelöst und schwebte hernieder. – Nun
war es Winter.

Dienstag, 7. Februar 2017

Christopher Fry - Über das Zeitgenössische Theater und das Urdrama der Existenz an sich. (Zitat)

Er (der Bühnenschriftsteller) forscht nach dem wahren Wesen des Menschen, nach seinem Wesen in der Komödie oder nach seinem Wesen in der Tragödie, denn jenseits des Dramas seiner Handlungen und Konflikte und Alltagsnöte ist das Urdrama seiner Existenz an sich.
 

Sein (des Menschen) Erscheinen in der Welt ist fast der großartigste Auftritt, der je ersonnen wurde, und es wird vielleicht nur noch übertroffen durch das Erscheinen des Weltalls, das ihn eingeführt hat.
 

Die unentrinnbare dramatische Situation für uns alle ist die, daß wir keine Ahnung haben, wie unsere Situation ist.
 

Vielleicht sind wir sterblich. Was dann? Vielleicht sind wir unsterblich. Was dann?
 

Wir sind in eine Existenz geworfen, die phantastisch bis zur Grenze eines Albtraums ist, und wie sehr wir unsere Vernunft auch gebrauchen, wie fest unser religiöser Glaube auch sein mag, wie dicht wir auch der Wissenschaft auf den Fersen folgen oder uns unter den Sternen des Mystizismus herumtreiben, wir können daraus nicht klug werden.
 

Aus: Christopher Fry – Ein Phönix zuviel - Über das Zeitgenössische Theater
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1954